Nachruf von Hermann Mückler
„Do it my friend…“, das waren seine Worte als ich Grant McCall, den damals bereits international anerkannten Osterinselforscher, vor über dreißig Jahren in Sydney zum ersten Mal begegnete. Ich hatte ihm von meinem Projekt, die Biographie und die Leistungen des deutsch-chilenischen Forschers Walter Knoche erforschen und veröffentlichen zu wollen, erzählt. Tatsächlich war dessen auf Deutsch erschienenes Buch zur Osterinselexpedition des Jahres 1911 weder auf Englisch noch auf Spanisch greifbar und die genannte Person weitgehend vergessen. Grant kannte nicht nur Knoche, sondern war sofort begeistert und drängte mich seitdem immer wieder, dieses Projekt nicht aus den Augen zu verlieren. Ihm ist es also zu verdanken, dass ich 2015 nach über zehn Jahren Recherche das Hauptwerk Knoches in kommentierter und erweiterter Form zumindest schon einmal auf Deutsch publizierte; die englische Ausgabe ist in Arbeit.
Genau so war Grant: an allem interessiert, neugierig und gleichzeitig ermunternd, unterstützend und dabei immer gut gelaunt. Treffen mit ihm verliefen sehr anregend, denn Grant war auch ein Genießer, der die Schönheit eines Ortes, die Güte eines guten Essens und den Geschmack eines guten Gläschens Wein in angenehmer, anregender Gesellschaft schätzte. Dabei konnte er zur Höchstform auflaufen und teilte dann Anekdoten und Details aus seinem Erfahrungsschatz. Doch er konnte auch zuhören. Dabei fixierte er einen lange mit den Augen und schwieg. Erst wenn man selbst geendet hatte, gab er seine Kommentare ab und diese waren von kluger Behutsamkeit, aber auch von (Selbst-)Ironie geprägt. In ihnen spiegelte sich der Erfahrungshorizont eines langen Lebens, welches von vielerlei Ereignissen, Eindrücken und einem breitgefächerten Forschungsinteresse geprägt war.
Geboren als Grant Edwin McCall am 22. August 1943 in Los Angeles, hatte er in Kalifornien die ersten beiden Lebensjahrzehnte verbracht. Nach Absolvierung der Newport Harbor High School (1961) und des Orange Coast College in Costa Mesa (1965) studierte er zuerst an der University of California in Berkeley, wo er seinen Bachelor of Arts im Juni 1966 erhielt, und anschließend am San Francisco State College, wo er den Master of Arts im Juni 1968 abschloss. Bereits damals lag sein Fokus auf „(General) Anthropology“ und er beschäftigte sich inhaltlich mit baskischen Communities in New York City, Kalifornien, Mexiko sowie mehreren Staaten Südamerikas, wofür er auch in den Jahren 1966 bis 1968 jeweils Feldforschungen vor Ort durchführte. Seine Studien an der Universität von Oxford, wo er 1970 sein Diplom für Social Anthropology erhielt, wiesen aber bereits in jene Richtung, die für ihn lebensbestimmend werden sollte, indem er sich der pazifischen Inselwelt zuwandte. Folgerichtig verlagerte er seine Studien, bei denen nun Polynesien im Vordergrund stand, an die Australian National University, wo er 1977 sein Doktorat der Philosophie erwerben konnte.
Seine erste längere Feldforschung im Pazifik galt der Osterinsel/Rapa Nui, die er von April 1972 bis Januar 1974 besuchte und vor Ort beforschte. Es sollte der erste von vielen kürzeren und längeren Aufenthalten sein, welche er auf der isolierten ostpolynesischen Insel verbrachte. Neben seinen Forschungen zu den Rapanui, die in Tahiti, Französisch-Polynesien, lebten (Februar 1974 bis September 1975), verweilte er auf der Osterinsel selbst u.a. kurz im Jahr 1984 sowie von August 1985 bis Mai 1986 und ein weiteres Mal von Januar 2001 bis Juni 2002 länger vor Ort. Neben diesen Feldforschungen auf der Osterinsel, deren letzte 2008 stattfand, kam er immer wieder auch für Vorträge auf diese Insel, der seine besondere Hinwendung und Liebe galt. Er befasste sich in seinen Forschungen sehr eingehend insbesondere mit den Familiengeschichten der Rapanui und betrieb explizit prosopographische Forschungen. Über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten konnte er die indigenen Rapanui in einer Weise kennenlernen, wie nur wenige vor und nach ihm. Praktisch alle auf der Insel kannten ihn und er kannte die Angehörigen der allermeisten alteingesessenen Familien auf Rapa Nui persönlich, schätzte, besuchte sie und hielt die Kontakte aufrecht. Aus diesen gewachsenen Beziehungsgeflechten wuchs seine Kenntnis von vielen Details der jüngeren Geschichte der Rapanui und das Wissen um die Ungerechtigkeiten und ausbeuterischen Bedingungen, welchen die Bewohner der Osterinsel in den letzten 150 Jahren unterworfen waren. Sein persönlicher Zugang und der Respekt vor den Werten und Lebenswelten der Rapanui ermöglichte es ihm, eine Vertrauensbasis zu den Rapanui herzustellen, die kein anderer Nicht-Rapanui hatte. Es ist daher kein Zufall, dass eine der allerersten Nachrichten vom Ableben Grants von Rapa Nui aus den Weg durch die sozialen Medien fand.
Grant McCall war ein vehementer Unterstützer der Sache der Rapanui, indem er sich für deren Bestrebungen nach mehr Autonomie bzw. Unabhängigkeit von Chile nicht nur verständnisvoll zeigte, sondern auch aktiv einsetzte. Nicht zuletzt wurde dies darin deutlich, dass er die Selbstbezeichnung der Osterinsel mit „Rapanui“ favorisierte (nicht nur als Bezeichnung für die Bewohner selbst), und nicht die getrennte Schreibweise „Rapa Nui“ verwendete, welche von Chile sowie im internationalen Sprachgebrauch bevorzugt wird. Sichtbar wurde seine Anteilnahme an den Interessen der pazifischen Inselbewohner auch noch auf eine andere Weise: so trug er gerne Hawaii-Hemden, welche mit durchaus kritischen Aussagen z.B. gegen Atomtests in Ozeanien, bedruckt waren. Grant scheute sich nicht, sich selbst klar zu positionieren und entsprechende Stellungnahmen abzugeben.
Sein wohl bekanntestes Werk aus der Beschäftigung mit der Osterinsel war das Buch „Rapanui. Tradition and Survival on Easter Island” (1980), welches in mehreren Auflagen und 1998 auch auf Spanisch erschien, und neben zahlreichen Beiträgen in wissenschaftlichen Journals seine Expertise zu Rapa Nui widerspiegelte. Darüber hinaus beschäftigte er sich aber auch mit Themen, welche die gesamte pazifische Inselwelt betrafen. Das von Grant zusammen mit Alexander Mamak herausgegebene Werk „Paradise Postponed. Essays on Research & Development in the South Pacific“ (1978) mag hier beispielhaft genannt werden. Seine Forschungen zu den Kulturen der (ost-)polynesischen Inselwelt reichten von Mangaia in der Cook-Inselgruppe bis nach Rapa Nui. Die Themen umfassten dabei historische Fragestellungen, Kolonialismus und Erinnerungskulturen, und die Verknüpfung dieser drei Themenblöcke. Und schließlich beschäftigte er sich auch mit Themen, welche Australien betrafen. Im Mittelpunkt standen aber immer die ozeanischen Inselwelten, insbesondere Polynesiens. Grant McCall gehörte zu den Ersten, welche nicht nur über die Inseln forschten, sondern auch ein Verständnis dafür forcierten, dass die Inseln mit ihren spezifischen kulturellen Eigenheiten und Problemen aus sich selbst heraus verstanden, erklärt und daraus Lösungsansätze entwickelt werden sollten. In seinem 1994 im Journal of the Pacific Society veröffentlichten Konzept der „Nissologie“ forderte er „the study of islands on their own terms“ („Nissology: A Proposal for Consideration“, 1994). Diese programmatischen Anregungen Grants, in denen er acht Charakteristika von Inseln sowie vier Dimensionen der Annäherung an diese formulierte, fielen fast zeitgleich mit der Entwicklung von Epeli Hau’ofas „our sea of islands“-Konzept zusammen und eröffneten neue Perspektiven und Herangehensweisen an die Ozeanienforschung jener Zeit. Dabei ging es Grant McCall um ein Verständnis spezifischer Merkmale, durch welche sich Inselgesellschaften auszeichnen, und deren Bündelung und Nutzung zu deren eigenen Nutzen.
Die Liste der Tätigkeiten Grant McCalls in wissenschaftlichen Vereinigungen und Institutionen ist lang. Herausgegriffen seien hier nur einige wenige, die beispielhaft die Breite der inhaltlichen Zugänge und Interessen Grants widerspiegeln. So war er u.a. vorgeschlagenes Mitglied der Australian National Commission of UNESCO in den Jahren 1990 bis 1992; Gründungsmitglied der Australia–Papua New Guinea Friendship Association (NSW) von 1990 bis 1993; Gründungs-Executive Committee Member in der International Small Island Studies Association (ISISA) ab 1992 und schließlich deren Präsident von 1998 bis 2014; Präsident der Australian Anthropological Society in den Jahren 1998-1999; Vizepräsident der Australian Association of Pacific Studies (AAPS); Distinguished Professor am World Environment & Island Institute der südkoreanischen Jeju National University seit 2014; dort war er auch Ehrenbürger von Jeju Island; und – vielleicht die Position, die ihm selbst am meisten am Herzen lag – Honorary Member im Te Mau Hatu (Rapanui Council of Elders) auf Rapa Nui seit dem Jahr 2008 bis zu seinem unerwarteten Ableben. Mindestens ebenso lang ist die Liste seiner Gutachtertätigkeiten, Gastprofessuren und Gastvorträge. U.a. war er seit 2013 Advisory Editor des Journals World Environment and Island Studies, und seit 2014 im Advisory Board des Journal of New Zealand & Pacific Studies.
Grant, der sowohl die australische als auch die US-Staatsbürgerschaft besaß, reiste gerne und obwohl Europa nicht gerade ums Eck von Australien liegt – wo er seinen Lebensmittelpunkt seit vielen Jahrzehnten hatte –, war er häufiger Gast bei allen großen internationalen Ozeanien-Tagungen, um dort seine Forschungsergebnisse und Erfahrungen mit anderen zu teilen. In Wien war er mehrmals. Im Jahr 2002 war er bei der Konferenz der European Society for Oceanists (ESfO) anwesend und in den Folgejahren fand er immer wieder den Weg nach Wien und hielt auch einmal einen Vortrag im Rahmen der Österreichisch-Südpazifischen Gesellschaft (OSPG) an der Universität Wien. Zuletzt war er in Europa 2022 bei der Tagung der ESfO in Korsika, anschließend bei der großen Rapa Nui-Konferenz im niederländischen Leiden und schließlich auch noch bei der Jahrestagung der New Zealand Studies Association (NZSA) in Marseille mit Vorträgen präsent. In diesen wurden immer wieder seine engen Beziehungen insbesondere zu den Rapanui thematisiert. Es ist, wie bereits erwähnt, kein Zufall, dass er sich in seinen Forschungen sehr mit den Familiengeschichten der Rapanui befasste, denn Grant war selbst ein Familienmensch. Verheiratet mit der aus London stammenden und drei Jahre jüngeren Julia Jane, geb. West, hatte er mit ihr drei Kinder und zwischenzeitig auch mehrere Enkelkinder, die für ihn ebenso wie sein großer Freundeskreis von zentraler Bedeutung waren. Anteil nahm er auch an den Familien seiner Freunde; so sandte er zur Geburt meiner jüngsten Tochter einen Stoffwombat und wir scherzten wiederholt über „the wisdom of the wombats“. Das große Fest zu seinem 80. Geburtstag am 22. August, an dem sich alle Familienangehörigen und Freunde treffen sollten, war bereits geplant, als er auf dem Rückflug von den Fidschi-Inseln nach Sydney an Bord des Flugzeugs unerwartet einen Herzinfarkt erlitt und am Folgetag, dem 22. Juli, im Krankenhaus in Sydney verstarb.
Zum letzten Mal hatte er sich am 4. Juli dieses Jahres bei mir gemeldet und mir einen Artikel des „Sydney Morning Herald“ gesandt, der auf die Einstellung der „Wiener Zeitung“, der ältesten weltweit regelmäßig erscheinenden Tageszeitung nach 320 Jahren ihres Bestehens, Bezug nahm. Er beobachtete und verfolgte viele Dinge, die anderen entgingen, und er fragte nach, denn er war an sehr vielem interessiert. Schon allein durch die Tatsache, dass er mit seinen Freunden auch über große Entfernungen immer den Kontakt hielt, hinterlässt seine Abwesenheit nun eine große Lücke bei sehr vielen. Seine Familie, sein Freundeskreis, die große Community der Ozeanien-Interessierten und nicht zuletzt viele Pacific Islander, denen Grant eng verbunden war – sie alle haben einen Freund und besonderen Menschen verloren.