Buchrezension von OSPG-Mitglied Matthias Mersch
Aus Westfalen in die Südsee.
Katholische Mission in den deutschen Kolonien
Silke Hensel, Barbara Rommé (Hg.), Dietrich Reimer Verlag Berlin, 2018.
ISBN 978-3-496-01611-3
Der drucktechnisch und buchbinderisch mit schönem Aufwand gestaltete und sorgfältig edierte Band von 280 Seiten verdankt seine Entstehung zwei Ereignissen und einem Exzellenzcluster namens „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, das an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) beheimatet ist.
Ereignis Nummer eins war die Tagung des Clusters unter dem Titel „Mission in Ozeanien während der deutschen Kolonialzeit“ vom 5. bis 7. Oktober 2017 in Münster. Das zweite Ereignis ist die Ausstellung Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in den deutschen Kolonien, die seit 22. September 2018 noch bis zum 13. Januar 2019 im Stadtmuseum Münster zu sehen ist.
Die beiden Institutionen sind in der Herausgeberschaft des Bandes paritätisch besetzt: Silke Hensel ist Professorin für neuere und neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der außereuropäischen Geschichte an der WWU und Projektleiterin des SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens in Vormoderne und Moderne“, Barbara Rommé leitet als Kunsthistorikerin das Stadtmuseum Münster.
Das Buch versammelt Beiträge von Menschen, die entweder in der Maienblüte ihrer Forscherleben oder erst am Beginn ihres akademischen Weges stehen. Manch einer von ihnen hat als Emeritus den Universitätsalltag gar schon hinter sich gebracht. Solche Mixturen halte ich stets für die verheißungsvollsten, denn Unterschiede der Auffassungen, des Wissensstandes und der Denkvorlieben über die Generationen hinweg eröffnen dem Leser ein weites Spektrum, dessen spannende Vielfalt den Grund zu eigenem Nachdenken legen kann.
Die zweite Stärke des Buches, die man gar nicht genug hervorheben kann, ist der gelungene Versuch, sowohl Makro- und Mikrostudien zusammenzuführen, als auch das ideologische, wirtschaftliche und kulturgeschichtliche „Hinterland“ der Missionierung in Ozeanien – in diesem Fall handelt es sich um Münster und Umgebung – greifbar zu machen. Damit folgt der Band einer jüngeren und überaus begrüßenswerten Tendenz, die sich beispielhaft in dem Sammelband unter der Herausgeberschaft von Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller, Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007 niedergeschlagen hat.
Die Beiträge von Thoralf Klein, Mission und Kolonialismus – eine transnationale und transimperiale Verflechtungsgeschichte und Hermann Mückler, Katholische und protestantische Missionsbestrebungen in Ozeanien von den 1850er Jahren bis 1918, welche die Aufsätze eröffnen, bieten eine anschauliche Hinführung zum Thema aus der Makroperspektive. In ihnen wird Missionierung als höchst vielschichtiger und äußerst ambivalenter Vorgang deutlich gemacht, der sich auf den ersten Blick simplizistischen Zuschreibungen zwar anzubieten scheint, sich ihnen bei genauerer Betrachtung von nicht nur regionalen Besonderheiten aber ganz entschieden entzieht. Wichtig ist darin auch der Hinweis Mücklers auf den Einsatz einheimischer Katechisten in Polynesien, eine Erscheinung, die sich später bei der Missionierung Melanesiens wiederholen sollte. Wolfgang Kempf hat bereits 1994 darüber publiziert (The Politics of Distancing: European Missionaries and Samoan Pastors in Northeast New Guinea, 1912-1933, in: Toon van Meijl und Paul van der Grijp, European Imagery and Colonial History in the Pacific, Saarbrücken 1994, S. 76-98), ohne dass dieses Thema seither die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hätte.
Die westfälische Perspektive auf das Missionsgeschehen und somit die ebenbürtigen Gegenstücke auf die Beiträge von Klein und Mückler liefern Werner Freitag, Klerus und Laien im Bistum Münster 1871-1914. Eine religionsgeschichtliche Annäherung, und Christine Fertig, Familie, Haushalt und Verwandtschaft. Das ländliche Westfalen im 18. und 19. Jahrhundert. Auf einer allgemeineren Ebene der Betrachtung der Missionierung – ohne dabei Bezug zu nehmen auf Westfalen – bewegt sich der Beitrag von Reinhard Wendt, Heidenmission in der Heimat. Ihre Bedeutung für Menschenbilder und Weltsichten.
Die Einteilung der 22 Beiträge unter die Rubren „Mission und Kolonialismus“ ( sieben Beiträge), „Ländliche Gesellschaften im Vergleich: Westfalen-Ozeanien“ (neun Beiträge) und „Verflechtungen zwischen Deutschland und Ozeanien“ (sechs Beiträge) erscheint mir etwas willkürlich und ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass das Thema der Tagung mit dem Thema der Ausstellung nicht ganz deckungsgleich ist: hier die allgemeinere Frage von Mission und Kolonialismus in deutschen Überseegebieten Ozeaniens, dort die sehr spezifische Beziehung, die Missionsorden aus Münster mit Ozeanien unterhalten haben.
So ließe sich meines Erachtens der Beitrag von Reinhard Wendt, Heidenmission in der Heimat. Ihre Bedeutung für Menschenbilder und Weltsichten, der im Bereich „Verflechtungen zwischen Deutschland und Ozeanien“ erscheint, genauso so gut, wenn nicht besser, unter „Mission und Kolonialismus“ einreihen. Ebenfalls in den „Verflechtungen“ landete Markus Schindlbecks Rotes Tuch und Ahnenmasken: Der Handel mit Ethnographica aus Ozeanien. Diesen Artikel kann ich mir gut als tauglichen Tagungsbeitrag vorstellen, erachte ihn aber als ungeeignet für die Publikation in vorliegendem Begleitband zur Ausstellung, denn in seinem Nachspüren eines verdächtig gewordenen Kunstmarktes beschwört er detailreich das Gespenst der Restitutionsforderung, das zwar geeignet ist, selbst den hartgesottensten, durch langjährige Arbeit in musealen Begasungsräumen gestählten Kustos in Angst und Schrecken zu versetzen, aber jeglichen Bezug auf Westfalen vermissen lässt.
Der Beitrag von Constanze Sieger, Die politisch-administrative Ordnung im 19. Jahrhundert. „Maschine des Beamtentums“ oder Ergebnis inkrementalistischen Entscheidens? wirft sicherlich ein neues und interessantes Licht auf die Verwaltungspraxis des Preußenstaates, eingereiht unter dem Überbegriff „Ländliche Gesellschaften im Vergleich: Westfalen-Ozeanien“ aber wirkt er, als sei er hilflos in fremder Umgebung ausgesetzt: es fehlt ihm als Pendant ein Beitrag, der sich systematisch mit dem Phänomen befasste, warum die vom deutschen Kaiserreich ausgeübte koloniale Verwaltung höchst unterschiedlichen Institutionen übertragen worden ist. Die verbreitete Unsicherheit in dieser Frage deutet sich im vorliegenden Band übrigens bereits mit der seltsam tastenden Formulierung Silke Hensels in der Einleitung an. Dort heißt es, dass Deutschland „unter den Kolonialmächten ein Nachzügler war und erst seit 1884 formale Kolonien erwarb“. Mit dem Terminus der „formalen Kolonie“ kann ich nichts anfangen.
Einer der beiden Beiträge von Alexis von Poser, Die neuirischen Schnitzwerke in der Sammlung der Hiltruper Missionsschwestern, referiert anschaulich über die Malangan-Tradition auf Neu-Irland und die Geschichte der einschlägigen Sammlung der Hiltruper Missionsschwestern, aus der einige Stücke in der Ausstellung gezeigt werden. Die Sammlung ist mittlerweile in den Bestand des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover übernommen worden. Alexis von Poser ist Leiter des Fachbereichs Ethnologie dieses Museums.
Ebenfalls in engem Zusammenhang mit der Ausstellung steht der Beitrag von Bernd Tenbergen und Heinz-Otto Rehage, Frühe naturkundliche Nachweise, Funde und Exponate von Hiltruper Missionsstationen (M.S.C.) aus Ozeanien, denn ausgestopfte Vögel, deren Bälge von Missionaren nach Deutschland geschickt worden waren, sind in Münster zu sehen. Der Beitrag erweitert unser Wissen über die Interessensgebiete der Missionare, die man üblicherweise auf handwerkliche Betätigung sowie auf das Sammeln von Ethnografica und das Erstellen von religions- und sprachwissenschaftlichen Studien beschränkt glaubt.
Mit Gewinn liest man auch den Beitrag von Ulrich Pfister, Die westfälische Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Globalisierung, an dessen Ende Pfister darauf hinweist, dass ostwestfälische Landkreise im preußischen Vergleich Spitzenwerte hinsichtlich der Auswanderungsquote aufwiesen und das Ruhrgebiet bis etwa 1880 die erforderlichen Arbeitskräfte besonders aus den weiter östlich gelegenen Randzonen Westfalens rekrutierte, „bevor dann Immigranten aus Polen an ihre Stelle traten. Wieweit die geschilderte Situation auch eine günstige Grundlage für die Rekrutierung von in Ozeanien tätigen Missionarinnen und Missionaren in den ländlichen Gebieten Westfalens abgab, muss an dieser Stelle offenbleiben.“ (S. 182)
Aus dem Beitrag geht aber nicht nur hervor, dass die wirtschaftliche Lage Westfalens möglicherweise eine Tätigkeit als Missionar in Übersee als attraktiv erscheinen ließ, sondern dass mit der Standortverlagerung des Montangewerbes in den Raum zwischen Ruhr und Emscher, der um 1840 noch sehr dünn besiedelt war, „eine eigentümliche Siedlungsentwicklung einherging, die ihrerseits einen Raum für eine katholisch gewendete Innere Mission schuf.“ (S. 179)
Denkt man diese Beobachtungen mit den Erkenntnissen des Beitrags von Livia Rigotti, Die Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu in Papua-Neuguinea zusammen, wonach die meisten katholischen Schwestern aus eher einfachen, ländlichen Verhältnissen stammten, ihre Eltern häufig Landwirte oder Handwerker waren und sie selbst nach der Volksschule meist als Haushaltshilfe oder Küchenmädchen gearbeitet hatten (siehe S. 62), so ergibt sich ein sehr deutliches Bild des sozialen Hintergrundes, vor dem die in einem streng katholisch geprägten Milieu aufgewachsenen Ordensleute zu ihrem spirituellen Missionswerk aufbrachen.
Der Beitrag von Felicity Jensz, „Schilderungen aus der Südsee“: Missionsperiodika und ihre Rolle in der deutschen Öffentlichkeit schärft das Bewusstsein über die erstaunliche Breitenwirkung der Medien, die von Missionsorden erstellt wurden. Eingehend widmet sich die Autorin über eine allgemeine Darstellung der regen Publikationstätigkeit im missionarischen Milieu hinaus den Schriften der in Münster beheimateten Missionsorden.
Wie und in welcher Form es zur Ansiedlung dieser Missionsorden im Münsterland kam, darüber informieren uns die Beiträge von Barbara Rommé, Warum die Herz-Jesu-Missionare nach Münster kamen und Silke Hensel, Die rheinisch-westfälische Kapuzinermission in Mikronesien.
Andrea Gawlytta, Doktorandin der Geschichte an der WWU, weist in scharfsinniger Weise in ihrer Mikrostudie Fotografien aus der Mission der rheinisch-westfälischen Kapuzinerprovinz und ihre Verwendungsformen nach, dass das gleiche Fotomaterial aus den Missionsgebieten kontextbezogen in höchst unterschiedlicher, ja sogar gegensätzlicher Manier zur Anwendung gebracht wurde, um die jeweilige Argumentation der Autoren zu unterstützen oder Materialien zu erstellen, die kommerziell, etwa in Form des Verkaufs von Ansichtskarten, genutzt werden konnten.
Der Beitrag von Hilke Thode-Arora, Menschen aus Ozeanien in Münster. Die Samoa-Völkerschau 1896 und 1897 im Zoo, beleuchtet auf der Grundlage von zeitgenössischen Zeitungsartikeln die Münsteraner Spielart des Phänomens Völkerschauen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dem sich Thode-Arora in bewundernswerter Konsequenz seit mehr als dreißig Jahren widmet. Dabei gelingt es ihr immer wieder, erstaunliche Einzelheiten und Zusammenhänge herauszuarbeiten, zuletzt in hervorragender Weise in dem von ihr zur gleichnamigen Ausstellung im Münchener Völkerkundemuseum herausgegebenen Begleitband From Samoa with Love? Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich. Eine Spurensuche, München 2014. Durch die Auswertung von Briefzeugnissen und die Befragung von Nachfahren der samoanischen Teilnehmer der Völkerschauen ist die Autorin in der Lage, ein holistisches Bild der eigenartigen Kultur- und Geschäftsbeziehung „Völkerschau“ zu erstellen, in dem endlich auch die Perspektive der „Objekte“ dieses Unterhaltungsgewerbes zur Geltung kommt.
Diese Multiperspektivität verbindet ihren Beitrag mit den Beiträgen von Lothar Käser, Glaubensvorstellungen in Mikronesien am Beispiel von Chuuk und Alexis von Poser, Soziale Beziehungen in Papua-Neuguinea. Die Autoren arbeiten heraus, auf welche sozialen und spirituellen Gegebenheiten die Missionare in Ihren Missionsgebieten gestoßen sind und welche „kreativen Mißverständnisse“ in der Wahrnehmung der jeweils anderen Kultur zur Veränderung der indigenen Gesellschaften beigetragen haben.
Die Zusammenstellung der Beiträge, der Grad ihrer thematischen Durchdringung und gegenseitigen Ergänzung ist fast durchgängig gelungen, so dass hier glücklicherweise nicht die Gefahr besteht, der sich viele akademische Sammelbände aussetzen, nämlich zu einem Gemischtwarenladen zum Aufhübschen von Publikationslisten zu werden. Das Buch hat den Anspruch, den inneren Zusammenhang von Ereignissen und Handlungsweisen herauszukehren, die üblicherweise nicht als zusammengehörig erkannt werden. Diesem selbstgesteckten Ziel genügt der Band in sehr überzeugender Weise!
Matthias Mersch (geb. 1960 in Garmisch-Partenkirchen), ist Ethnologe, Historiker, Dokumentarfilmer und Hausmann. Er lebt in München, Wien und Qingdao.