(Buchrezension von Hermann Mückler)
Dieses Buch ist ein Juwel! Wer bibliophil gestaltete Bücher schätzt und darüber hinaus einem künstlerisch anspruchsvollen Layout und kreativen Design etwas abgewinnen kann, der wird mit diesem Buch seine helle Freude haben. Bereits der Hardcover-Einband enthält wunderschöne kolorierte Federzeichnungen zentraler Elemente, die in der Kultur der I-Kiribati – so nennen sich die Bewohner des ostmikronesischen Inselstaates Kiribati (sprich: Kiribas) – ihre spezielle Bedeutung haben. Praktisch jede Seite dieses Buches ist aufwendig graphisch gestaltet; für jede Seite dieses Buches haben sich die beiden Autoren genau überlegt, was und wie sie die einzelnen jeweils kulturell bedeutsamen Elemente darstellen, welche viele erklärende Worte ersetzen sollen und gleichzeitig so aussagekräftig sind, um einen umfassenden Über- und Einblick in die Kultur dieses Inselvolkes zu gewähren.
Die beiden aus Brescia und Mailand stammenden Autoren Alice Piciocchi – sie zeichnet für die Texte verantwortlich – und ihr Lebenspartner, der Architekt Andrea Angeli[RM1] , welcher die graphische Gestaltung umsetzte, haben sich über dieses auf Italienisch bereits 2016 erschienene Buch Gedanken gemacht. Die Frage war dabei, wie man die für die Lebenswelt einer Inselbevölkerung wichtigen Dinge so einer Leserschaft präsentieren kann, dass deren Bedeutung, aber auch Zusammenhänge, die weit über die praktische Nutzung hinaus in einem größeren ökologischen, ja kosmologischen Kontext, verankert sind, verdeutlicht werden können? Sie fanden die Antwort in graphischen Darstellungen, die sich an den beliebten infographischen Diagrammen und Graphen orientieren, welche heute für die Erklärung komplexer Zusammenhänge in einer bildfixierten Welt zunehmend Verwendung finden. Es handelt sich um eine Mischung aus Abbildung und Tabelle, mit cartoon- und sogar comichaften Elementen und diese finden sich zusammen mit Piktogrammen und Elementen aus der Statistikdarstellung (z.B. Tortengraphiken), die mit malerischen, atmosphärischen Settings amalgamieren, wobei die zarte Linienführung der von Andrea Angeli stammenden Federzeichnungen nicht mit der sparsam eingesetzten Kolorierung rivalisiert. Vielmehr ergeben sie eine Einheit, die sich durch das Buch wie ein roter Faden zieht, der den Betrachter und die Betrachterin auf eine Reise mitnimmt, bei der jede einzelne Seite einen „Cliffhanger“ darstellt und man schon gespannt ist, was die nächst folgende Seite wohl zeigen und erklären mag.
Die beiden Autorinnen bezeichnen die den jeweiligen Themen gewidmeten Kapitel als „illustrierte Chroniken“, mit denen sie versuchen, die Lebenswelt der I-Kiribati darzustellen und „…a summary of the ingredients that make up the binder we call belonging“ zu präsentieren, um schlussendlich ein Bild zu generieren: „To transform those dots on the map into something more“ (S. 11). Dies gelingt den beiden italienischen Autoren auf außerordentliche Weise. Den LeserInnen wird nahegelegt, dieses Buch in einer zirkulierenden Art und Weise zu lesen, sodass die am Ende des Buches erwähnten Dinge wiederum zum Anfang führen und sich damit ein Kreis schließt. Jede dieser illustrierten Chroniken weist Textteile und damit unmittelbar korrespondierende Bildteile auf, die als Tafeln die wesentlichen Elemente von Praktiken, Ritualen, Handwerken, Alltagstätigkeiten, Symbolen und vielem anderen visualisieren. Buchstäblich jede dieser Tafeln wäre es wert, hier separat detailliert geschildert zu werden, und es können hier nur einige der Themengebiete aufgezählt werden: traditionelle Heilmethoden und die dafür verwendeten Pflanzen, die Rolle der Religion und der Kirche(n) auf Kiribati, die Struktur und soziale Gliederung eines traditionellen Mameaba genannten Versammlungshauses, die Gebäude eines Gehöfts und die Lage der Häuser eines Dorfes zueinander, Fischfangmethoden, traditionelle Seefahrt und Navigation, die Nahrungsmittel und deren Anbau- und Verarbeitungsmethoden, die Rolle traditioneller vorchristlicher Glaubensvorstellungen, Verhaltensregeln für den Umgang mit Gästen sowie Herausforderungen des Alltags, überlieferte Bräuche und kulturelle Praktiken wie z.B. Tänze, aber auch traditionelle Erwartungshaltungen und die Einflüsse der Moderne, welche zu Brüchen und Neuorientierungen führen. Jede dieser Tafeln gibt zusätzliche Einblicke und Informationen, mit denen man nicht rechnet. So werden beispielsweise nicht nur die Fische, die für die Ernährung der Inselbewohner wichtig sind, aufgelistet, sondern auch die Meerestiefe, in denen diese jeweils vorkommen und die daher mit unterschiedlichen Fangmethoden erbeutet werden müssen. Wie kann man einen traditionellen Tanz auf einer Tafel darstellen? Durch das Einzeichnen von Längs- und Querachsen als Positions- und Drehpunkte, mittels Pfeilen, welche die einzelnen Bewegungsabläufe skizzieren und durch kartuschenartige Einschübe an den Rändern werden sogar Kopf- und Augenbewegungen nachvollziehbar illustriert. Das Spielen mit ein- und ausschließenden Auflistungen ermöglicht die Verdeutlichung dessen, was es in Kiribati gibt bzw. eben nicht gibt: so gibt es zwar eine einzige Rolltreppe in einem halbfertigen Einkaufszentrum in Bairiki, aber auf keiner der 33 Inseln einen Aufzug.
Die Bedeutung von Entfernungen zwischen den Inseln wird thematisiert, so wie die Beliebtheit des Bingo-Spiels. Praktiken und Verhaltensweisen, wenn es darum geht, Unglück abzuwenden werden ebenso graphisch umgesetzt, wie die prägenden, gliedernden Ereignisse im Leben der Menschen: die Geburt, das Erreichen des Erwachsenenalters, Zwischenmenschliches, Heirat und Tod. In den Texten werden persönliche Begebenheiten und Begegnungen, die den beiden reisenden Italienern vor Ort widerfuhren, wiedergegeben. Sie bilden jeweils den Anlass für das Aufgreifen eines spezifischen Aspekts aus der Lebenswelt der I-Kiribati. Im Mittelpunkt vieler Bildtafeln stehen auch die Veränderungen, denen die Inselbewohner in Vergangenheit und Gegenwart unterworfen waren und sind. Ein umfangreiches, ebenfalls illustriertes, Glossar sowie eine Zeittafel und eine Auswahlbibliographie ergänzen die Chronik-Kapitel.
Dieses Buch ist eines der schönsten Bücher zu Ozeanien, welches in den vergangenen Jahren seine Veröffentlichung gefunden hat. Es überrascht, dass neben der deutschsprachigen Ausgabe auch für die hier besprochene englischsprachige Ausgabe derselbe Münchner Verlag verantwortlich zeichnet. Dem Sieveking Verlag ist für die äußerst liebevolle Umsetzung dieses Buchprojektes nachdrücklich zu gratulieren. Dem ambitionierten Verlagsteam ist es mit diesem Buch gelungen, etwas Besonderes zu schaffen. Als Leser und Rezensent dieses Buches ertappte ich mich dabei, mir zu wünschen, vor Ort zu sein, um die Dinge selbst erleben, nachfragen und ausprobieren zu können. Obwohl nicht prioritär als wissenschaftliches Buch konzipiert, offeriert es so viele Details zu den Lebenswelten der I-Kiribati, dass es für alle Ozeanien-Interessierten einen Mehrwert generiert und viele unterschiedliche und komplexe Themen übersichtlich und leicht erschließbar vereint.
Dieses Buch der beiden italienischen Autoren beschreibt die Kultur der Menschen von Kiribati mit großem Interesse, Respekt und, ja, Zuneigung. Wie es der Titel bereits suggeriert, geht es den beiden Autoren darum, eine Bestandsaufnahme einer Welt zu leisten, die es vermutlich so bald nicht mehr geben wird. Ob durch eine klimabedingte oder eine arbeitsbedingte forcierte Abwanderung – diese Momentaufnahme ist gleichzeitig Bilanz und Warnung, was alles verloren gehen könnte, wenn eine Kultur dramatischen Veränderungen unterworfen wird. Ob es dazu kommen wird, lassen Piciocchi und Angeli offen. Dieses Buch verdient jedenfalls eine weite Verbreitung zu finden.
Piciocchi, Alice/ Angeli, Andrea: Kiribati. An island world vanishes into the ocean (dt. Eine Inselwelt versinkt im Pazifik). München 2017: Sieveking Verlag, 144 S., über 120 Abbild., hardcover, 31,50 US$ (29,10 Euro), engl. Ausgabe: ISBN 978-3-944874-77-7; dt. Ausgabe: ISBN 978-3-944874-74-6
Genre: populäres Sachbuch