(Buchrezension von Hermann Mückler)
Es ist ein gewichtiges Buch. Auf über 500 Seiten breitet der Autor Michael Ravell Walsh eine Geschichte jener bewohnten Inselgruppen aus, welche heute den Staat Kiribati bilden, und folgt dabei einer leicht erschließbaren Chronologie, die er in drei große Blöcke aufteilt: 1.) die Zeit vor der kolonialen Einflussnahme, als „Tungaru“ bezeichnet; 2.) die Protektorats- bzw. Kolonialzeit der „Gilbert and Ellice Islands“, und 3.) die Epoche des unabhängigen Staates „The Republic of Kiribati“. Folglich ist das Buch in drei große Teile mit jeweils einer Anzahl von Unterkapiteln sehr übersichtlich gegliedert.
Der Autor hat eine über mehr als fünf Jahrzehnte andauernde enge Beziehung zu Kiribati. Nicht nur stammt seine Frau Nei Rotee Tekee von dort, auch seine berufliche Tätigkeit hatte ihn bereits in den frühen 1970er Jahren als ersten Wirtschaftswissenschaftler in die damalige britische Kolonie Gilbert & Ellice Islands gebracht. U.a. war er Gründungsmitglied des National Economic Planning Office. Auch später, als er mit seiner Frau in England wohnte, hielt er enge Beziehungen zu den I-Kiribati- (so bezeichnen sich die Inselbewohner selbst) Communities im Vereinigten Königreich aufrecht und wurde 1996 zum britischen Honorarkonsul für Kiribati ernannt.
Der Mehrwert dieses Buches liegt darin, dass es seit der Gründung des Staates Kiribati im Jahr 1979 nur wenige aktuelle Buchveröffentlichungen zur Geschichte dieser Weltgegend gibt. Walsh listet sie in der Einleitung und vermerkt gleichzeitig, welche bislang unveröffentlichten Quellen er für sein Buch exklusiv benutzen konnte. Dazu zählen die Aufzeichnungen des Laienbruders Nicolas Hamann der Société des Missionaires du Sacré-Coeur, der von 1910 bis 1912 auf den Gilbert Islands residierte, aber auch die zwar veröffentlichten jedoch wenig beachteten Berichte der Resident Commissioners Edward Eliot, H. R. McClure, John H. Smith, Ian Butler und Albert Ellis sowie die unveröffentlichten Berichte von Sir John Peel (herausgegeben von Quentin Peel) und Eric Bailey.
Das Buch von Walsh ist schon allein durch die Nutzung dieser Quellen interessant, da es neue Blickwinkel und sehr persönliche Zugänge der genannten Personen zu Ereignissen und Entwicklungen wiedergibt und diese insbesondere für die Übergangszeit von der Kolonie zu einem unabhängigen Staat eine neues Licht auf die Herausforderungen jener Zeitperiode werfen.
Der erste Teil des Buches beginnt mit einen detaillierten Blick auf die geographischen und natürlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen der im Fokus stehenden Inselgruppen. Weiters gewährt Walsh einen Überblick in traditionelle soziale, ökonomische, religiöse, handwerkliche und waffentechnische Traditionen der Inseln, wobei er die jeweiligen Unterschiede zwischen einzelnen Inseln bzw. Inselgruppen betont und damit die kulturelle Vielfalt von Kiribati darstellt. Der erste Teil endet mit historischen Anmerkungen zu den frühen Kontakten der Inselbewohner zu den europäischen Entdeckern und Händlern. Positiv hervorzuheben ist der Umstand, dass Walsh viele Praktiken und Gegenstände aus der Perspektive der I-Kiribati beschreibt und dabei die lokale Begrifflichkeit bzw. Terminologie auflistet, die bereits am Beginn des Buches in einem umfangreichen Glossar zusammengefasst ist.
Der zweite Teil fokussiert eingangs auf die britische Protektoratszeit der Jahre 1892-1916 (dazu gibt es für den deutschsprachigen Raum das äußerst erhellende Werk des Salzburger Historikers Harald Werber „Kiribati. Politischer und ökonomischer Wandel während der Protektoratszeit 1892-1916“, Wien 2011). Ein eigenes Subkapitel wird der Tätigkeit der Pacific Phosphate Company und dem Zeitraum von 1899 bis 1920 gewidmet. Neben den Entwicklungen der Zwischenkriegszeit – darunter u.a. die Rolle der British Phosphate Commission – stehen die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sowie die zeitweise US-Verwaltung der Inseln der Jahre 1943 bis 1945 im Zentrum der Erörterungen, aber auch die daran anschließenden, anfangs zögerlichen, aber dennoch kontinuierlich schrittweisen Anstrengungen, die Bewohner der Gilbert & Ellice Islands von britischer Seite auf eine Unabhängigkeit vorzubereiten. Hier werden Erwartungen und Hoffnungen mit realistischen Möglichkeiten und realpolitischen Erfordernissen abgeglichen, wobei zu dieser Epoche auch die vom Autor selbst beobachteten und mitentschiedenen Entwicklungen Eingang in die Erörterungen finden. Bereits hier zu Ende des zweiten Teils sowie im gesamten dritten Teil profitiert das Buch von den persönlichen Einschätzungen von Michael Ravell Walsh, da er die Entwicklungen in Kiribati (sowie zu einem geringen Teil in den bereits 1975 abgespaltenen Ellice Islands, die den Staat Tuvalu bildeten) aus unmittelbarer Erfahrung sowie guten Kontakten zu Schlüsselpersonen der neuen Administrationen mitverfolgen konnte.
Der dritte Teil beleuchtet die Geschichte des unabhängigen Staates Kiribati. Mehrere der Unterkapitel folgen den Amtsperioden der jeweiligen Präsidenten (auf I-Kiribati „Beretitenti“ genannt) und beleuchten deren jeweilige politische soziale Schwerpunktsetzungen. Neben ökonomischen Zwängen und den Herausforderungen einer von zunehmenden Globalisierungstendenzen geprägten Weltgesellschaft gewinnen u.a. die sich schleichend einstellenden Veränderungen durch den Klimawandel an Bedeutung. Betroffenheitsszenarien werden hier mit politischen Handlungsstrategien korreliert und ihre tatsächliche Wirkungsmacht hinterfragt. Ein eigenes Kapitel widmet Walsh der I-Kiribati-Diaspora, die sich von Australien bis ins Vereinige Königreich erstreckt und in ihrer Rolle als Vermittler zwischen den Industriestaaten und Kiribati nicht unterschätzt werden darf.
Zusammengefasst darf angemerkt werden, dass dieses Buch eine ganze Reihe neuer Einblicke und regionalspezifischer Sichtweisen offeriert, die man als Außenstehender so ansonsten kaum vermittelt bekommt. Es sei aber auch angemerkt, dass es sich um ein Buch handelt, welches die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens leider nur begrenzt umsetzt. Es gibt keine genauen Quellenverweise im Text und keine Bibliographie am Ende des Buches. Vielmehr listet Walsh am Ende jedes Kapitels unter „Further Reading” jene Werke auf, die ihm für die Erstellung des jeweiligen Kapitels inhaltlich dienlich waren. Zur Ehrenrettung des Autors muss angemerkt werden, dass er das selbst auch so in der Einleitung ankündigt: „This history is not an original work of scholarship, nor is it the result of extensive new research: it is mostly a synthesis and interpretation of other works” (S. V). Das Buch enthält drei Karten, drei Skizzen sowie ein paar Tabellen, jedoch keine sonstigen Abbildungen. Am Ende des Buches findet sich ein Index. Es überrascht, dass der Autor das Buch im Eigenverlag publizieren musste und sich kein namhafter Verlag (auch aus dem Pazifik selbst) für dieses hochinformative Werk fand.
Die Zielgruppe dieses Buches sind prioritär die Bewohner von Kiribati selbst, die mit diesem Werk einen guten Überblick über die historischen Entwicklungen der Vergangenheit bis hinauf in die Gegenwart erhalten. Dennoch ist das Buch auch für HistorikerInnen, EthnologInnen und generell für an Ozeanien Interessierte von substantieller Bedeutung, da es einen multiperspektivischen, gehaltvollen und leicht lesbaren Zugang zu einer Weltregion und deren Menschen ermöglicht, die ansonsten selten im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit stehen.
Walsh, Michael Ravell: A History of Kiribati. From the Earliest Times to the 40th Anniversary of the Republic. Independently published, 2020, 517 S., XXIV S., paperback, 19,83 US$ (18,40 Euro). ISBN: 978-869535-895-7
Genre: Wissenschaft