(Buchrezension von Hermann Mückler)
Was soll man von einem Buch halten, bei dem das Cover-Bild etwas vorgibt, das der Inhalt nicht erfüllt? Dieses zeigt eine spektakuläre Ansicht von Bora Bora, einer der schönsten polynesischen Inseln, Teil von Französisch-Polynesien und durch ihren charakteristisch zerklüfteten Zentralberg und den touristisch intensiv genutzten Korallensaum weltberühmt. Dass in diesem Buch Bora Bora kein einziges Mal Erwähnung findet und es keinerlei inhaltliche Bezüge zu diesem Atoll gibt, außer dem Umstand, dass die im Buch besprochene Örtlichkeit ebenfalls ein Atoll, wenngleich von gänzlich anderer Gestalt und an einem völlig anderen Ort ist, wirkt – wohlwollend formuliert – befremdlich.
Tatsächlich geht es in diesem Buch um die Darstellung des Alltags und der aktuellen Herausforderungen, denen die Bewohner des gehobenen Atolls Nikunau, Teil der Gilbert-Inselgruppe und somit politisch Teil des Staates Kiribati, begegnen müssen. Es geht um die bindenden Elemente einer Gesellschaft, die ca. 2000 Einwohner umfasst und die in einer der ökologisch und klimatisch verwundbarsten Weltgegenden beheimatet ist und daher in Vergangenheit und Gegenwart besondere Regeln für das Zusammenleben entwickelte. Es geht um die Tatsache, dass ein großer Teil der ursprünglichen Bevölkerung nun bereits in mehreren Generationen auf mehrere Länder verteilt in der Diaspora lebt – ca. 5.000 I-Nikunau (so nennen sich die Bewohner des Atolls selbst) – und es vielfältige Strategien gibt, die Verbindung zueinander auch über große räumliche Distanzen aufrecht zu erhalten. Es geht um Kinship, Verwandtschaft, als das primäre bindende Element einer fragilen und von Volatilität gekennzeichneten Gesellschaft, und diese wird insbesondere aus dem Blickwinkel der I-Nikunau-Diaspora beleuchtet.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert, wobei der dritte Teil der mit Abstand umfangreichste ist und eine retrospektive Analyse der I-Nikunau liefert, wie sich die Lebensumstände und historischen äußeren Einflüsse darstellen und welche Beweggründe es gab und gibt, das Atoll zu verlassen. Im ersten Teil werden die Erhebungsmethoden, die Validierungskriterien sowie das empirische Material dargelegt. Im zweiten Teil werden die I-Nikunau-Gemeinschaften auf dem Atoll selbst, diejenigen in der Hauptstadt von Kiribati in (South) Tarawa, sowie jene, die international auf verschiedene Länder aufgeteilt sind, in ihrem Ist-Zustand skizziert. Im großen dritten Teil werden 13 Umstände gelistet, die auf die Menschen wirkten und wirken, und als Auslöser und Ursache für die Abwanderung von der Heimatinsel Relevanz entwickelten: es werden geographische, demographische, ökonomische, umweltbezogene, biologische, ernährungstechnische, politische, spirituelle, ausbildungsbezogene, soziale, organisatorische, verteilungstechnische und kulturelle Umstände – in genau dieser nicht immer nachvollziehbaren Reihenfolge – jeweils in elaborierten Unterkapiteln beleuchtet. Hier liegt der Kern und damit der Mehrwert dieses Buches. Gleichwohl bekommt man den Eindruck, dass alles, was in den letzten zweihundert Jahren den I-Nikunau widerfahren ist, hier umfassend aufgelistet wird und damit indirekt oder auch direkt als Auslöser für eine Abwanderung angesehen wird. So wird beispielsweise die Christianisierung durch die London Missionary Society (Kap. 12.3) mit all ihren Restriktionen und Strafen zu Beginn des 20. Jhdts. erwähnt. Dass das Verbot von Abtreibung als eine Form der Geburtenkontrolle zu größeren Familien führte, welche die demographische Tragfähigkeit des Atolls überstiegen, ist nachvollziehbar und trifft sicherlich auch auf viele andere pazifische Inseln und Atolle zu. Interessant sind die Ausführungen, welche die stufenweise Auswanderung von Nikunau über South Tarawa zu den „metropolitan countries“, z.B. nach Neuseeland, beleuchten und dabei die prekären Lebensumstände in Tarawa selbst aufgreifen. Detailliert werden sogenannte Rückspül- („backwash-“) und Ausbreitungseffekte („spread-effects“) analysiert und damit ein gute Darstellung über die Dynamiken, welche mit den Fluss der remittances, der Geldrücküberweisungen, verbunden sind, geleistet. Auch die modernen kommunikationstechnischen Möglichkeiten und die Rolle sozialer Medien werden angesprochen. Dixon enthält sich auch nicht kritischer Anmerkungen und thematisiert beispielsweise neo-liberale politische Entwicklungen, welche es dem öffentlichen Sektor erschweren, kurzfristig auf umweltbezogene Herausforderungen reagieren zu können (S. 96). Lösungsstrategien werden jedoch nur ansatzweise angesprochen. Im Zentrum der Erörterungen steht immer wieder das Verhältnis von Nikunau zu anderen Inseln des Staates sowie zur Regierung von Kiribati, und die schwere Durchsetzbarkeit partikularer Interessen im Gesamtstaatsverband. Das Buch gewährleistet gute Einblicke in die Strukturen der Verwaltung von Kiribati und die Möglichkeiten, aber auch Limitierungen, die solch einen Inselstaat auf dieser Ebene prägen. Wenn es um die komplexe Darstellung verwandtschaftlicher Beziehungen geht, vermisst man jedoch manch sozialanthropologisch relevantes Detail.
Vorweg sei angemerkt, dass sich dieses Buch nicht als eingängig und leicht lesbar darstellt. Der Text ist sehr bürokratisch formuliert, präzise, aber trocken, mit zahlreichen Statistiken und quantitativen Verweisen angereichert. Dass keine Kultur- oder Sozialwissenschaftler, sondern Verwalter Bücher über ehemalige Kolonien schreiben, hat durchaus Tradition. So war auch der von Dixon zitierte Arthur Francis Grimble ein Verwalter und auch Henry Evans Maude war ursprünglich ein Kolonialbeamter, bevor er sich seinen wissenschaftlichen Studien zur Region widmete. Dixon steht daher in einer Tradition von Autoren, die andere und daher durchaus interessante, unorthodoxe Blickwinkel auf die angesprochenen Themen einnahmen. Auffällig ist die hohe Anzahl von Selbstverweisen des Autors auf andere Stellen im Buch. Die Bibliographie ist umfangreich und beweist, dass Dixon die Fachliteratur zu dieser Weltgegend kennt und sich selbst in seinen eigenen Ausführungen dazu kontextuell in Bezug setzt.
Der Verlag ist für die Gestaltung des Buches zu kritisieren. Sidestone Press zeichnete nicht nur, wie im Impressum angegeben, für die Covergestaltung verantwortlich, auch im Buch selbst grenzen manche der Abbildungen an vorsätzliche Boshaftigkeit gegenüber einer interessierten Leserschaft. Dass eine Karte des gesamten Pazifiks inklusive Australien (fig. 3) nur die Maße 10,4 x 6,6 cm aufweist, sodass man selbst mit einer Lupe die meisten Bezeichnungen nicht lesen kann, wäre vermeidbar gewesen. Dass es im ganzen Buch keine einzige (!) Abbildung von Nikunau gibt, von den Häusern der Menschen, sodass man z.B. einen Eindruck davon bekäme, wie nahe diese am Wasser stehen, macht nachdenklich. War Dixon jemals auf Nikunau? Überhaupt gibt es im ganzen Buch weder im Text des Buchrückens noch irgendwo sonst Hinweise auf den wissenschaftlich-biographischen Background des Autors. Erst eine Recherche auf der Verlagsseite bringt hier Erhellung. Die Ausführungen, die leider viele Belanglosigkeiten beinhalten, geben als wichtige Informationen zum Autor und dessen Zugang zur Thematik an, dass dessen Frau familiäre Bezüge zu Nikunau hat, und dass er selbst buchhalterische Tätigkeiten in verschiedenen Institutionen in England, Papua-Neuguinea und Kiribati ausübte. Bedauerlich ist auch das Fehlen eines Sachindex.
Dass dieses Buch – trotz des Covers – dennoch als empfehlenswert klassifiziert wird, hängt mit der insgesamt extrem geringen Anzahl an Veröffentlichungen zur Region zusammen, ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass dieses Buch einen interessanten Beitrag zur Diasporakulturforschung darstellt und daher über das besprochene Beispiel von Nikunau hinaus Strategien und Praxen beleuchtet, die durch von Abwanderungstendenzen betroffenen Inselbewohnern entwickelt wurden, um ihre sozialen, kulturellen und politischen Bindungen zwischen ursprünglicher Heimat und Diaspora aufrecht zu erhalten.
Dixon, Keith: Acclimatising to Higher Ground. The realities of life of a Pacific Atoll People. Leiden 2021: Sidestone Press, 254 S., paperback, 45.00 Euro (hardcover 120.00 Euro), ISBN 978-94-6426-029-8 (softcover), 978-94-6426-030-4 (hardcover)
Genre: Wissenschaft