Wer kannte sie nicht? Alle, die je mit der materiellen Kultur Polynesiens und insbesondere der Hawaii-Inseln in Berührung kamen, landeten fast zwangsläufig bei einer von Adrienne Kaepplers zahlreichen Veröffentlichungen, die sie über einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten publizierte. Viele dieser Bücher und ebenso viele Artikel in den renommierten Fachjournalen gelten heute als „Klassiker“ und werden häufig zitiert. Ein Fokus ihrer Arbeit lag auf der Bearbeitung jener Objekte, die der britische Entdecker James Cook von seinen drei Reisen im ausgehenden 18. Jahrhundert mitgebracht hatte und in diversen europäischen und US-amerikanischen Museen aufbewahrt werden. Da auch im Weltmuseum Wien, dem vormaligen Völkerkundemuseum, zahlreiche Objekte der Cook’schen Weltreisen zu finden sind und Wien damit eine der weltweit größten Cook-Sammlungen beherbergt, war Adrienne Kaeppler über die Jahre immer wieder in Wien zu Besuch, wo sie auch das Wiener Kaffeehaus schätzen lernte und einem Apfel- oder Milchrahmstrudel nicht abgeneigt war. Zahlreiche aus Wien stammende Objekte aus und zu Polynesien fanden daher wiederholt Eingang in ihre meist opulent ausgestatteten großformatigen Bildbände und trugen so zur Bekanntheit des Wiener Weltmuseums und dessen Sammlungen bei. Aber auch jene, die sich für die Musik Ozeaniens und insbesondere die hawaiischen Tänze interessierten, kamen vermutlich mit Kaepplers Werken in Berührung. Zu ihren Leidenschaften zählte, dass sie selbst gerne tanzte und dies nicht nur in ihrer akademischen Lehre vermittelte, sondern auch selbst ausgiebig vor allem den hawaiischen Hula praktizierte.
Adrienne Kaeppler, geboren in Milwaukee, Wisconsin, an den Ufern des Lake Michigan, hatte ihr Studium an der University of Hawaii (UH) in Manoa begonnen und von Anfang an einen regionalen Fokus auf Ozeanien gelegt. Auch über das Studium hinaus, welches sie mit dem Doktortitel an der UH abschloss, blieben ihr Lebensmittelpunkt über viele Jahre die Hawaii-Inseln. An der UH lehrte sie zwölf Jahre als Dozentin für Tanz und Musik. Gleichzeitig arbeitete sie am ebenfalls in Honolulu auf Oahu befindlichen Bernice Pauahi Bishop Museum, zuerst als Forschungsanalystin, später als Anthropologin. Später wechselte sie nach Washington D.C., wo sie rund vier Jahrzehnte lang als Forschungsanthropologin für pazifische Inseln und Kuratorin in der Abteilung für Anthropologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte der Smithsonian Institution tätig war. Erst im vergangenen Dezember ging sie dort in den Ruhestand.
Unsere erste Begegnung fand zufällig beim jährlich stattfindenden Merry Monarch Festival in Hilo, Hawaii (Big Island) Mitte der 1990er Jahre statt, wo der traditionelle Hula seine zelebrierte Aufführung fand und wo ich das erste Mal ihre bescheidene und herzliche Art erleben durfte. Später trafen wir uns in Wien, wenn sie wieder einmal im Depot der damals noch Völkerkundemuseum genannten ethnologischen Institution nach Objekten suchte, die sie verglich und für ihre Publikationen zusammentrug. Zuletzt hatten wir Kontakt, als sie zusammen mit der Osterinsel-Expertin Jo Anne Van Tilburg für ein gemeinsames Buch über den tatauierten Mann von Rapa Nui recherchierte und die von mir veröffentlichten Aussagen dazu von dem deutsch-chilenischen Forscher Walter Knoche einbauen wollte. Dieses 2018 erschienene Buch zeigt, dass sie bis zuletzt wissenschaftlich äußerst engagiert tätig war, sich mit allen Aspekten der polynesischen Kulturtraditionen auseinandersetzte und immer wieder für Neues offen war. Ihr Fokus lag auf der Beschäftigung mit den weltweit in Museen und privaten Sammlungen gelagerten Objekten der materiellen Kultur Polynesiens. In diesem Zusammenhang hatte sie schon lange bevor viele andere auf das Thema aufsprangen eine klare Position für die Restituierung und Repatriierung von Objekten angeregt, die unter fragwürdigen Umständen in die jeweiligen Sammlungen geraten waren und agierte wiederholt behutsam diplomatisch aber auch bestimmt als Vermittler bei konkreten Anlassfällen. Gleichwohl wusste sie um die Bedeutung und Funktion musealer Sammlungen und vertrat keine Radikalpositionen, welche heute – wie das Beispiel des Grassi-Museums für Völkerkunde zu Leipzig eindringlich zeigt – in postkoloniale Bußübungen ausarten und den Sinn und die Funktion eines Museums ad absurdum führen können.
Adriennes zahlreiche Bücher sowie weit über 300 wissenschaftliche Artikel sind ein Oeuvre, welches nur von wenigen übertroffen wird. Ihre ausgewiesene Expertise zu den Hawaii-Inseln und zu Tonga, aber auch anderen Regionen und thematischen Bereichen Polynesiens machte sie zu einer Ansprechpartnerin für auftauchende Fragen, denen sie immer prompt und ausführlich begegnete. Neben jenen Büchern, die sie alleine oder in Kooperation mit anderen Experten als Überblickswerke zum Kunstschaffen Polynesiens und Ozeaniens verfasst hatte, sind als „Klassiker“ die beiden Bücher „Artificial Curiosities“ being An exposition of native manufactures collected on the three Pacific voyages of Captain James Cook, R.N. sowie Cook Voyage Artifacts in Leningrad, Berne, and Florence Museums (beide 1978, Honolulu) hervorhebenswert. Besonders herausragend ist meines Erachtens auch das 2011 erschienene Werk Holophusicon. The Leverian Museum. An Eighteenth-Century English Institution of Science, Curiosity, and Art (Altenstadt), und als letzte Buchpublikation (gemeinsam mit Jo Anne Van Tilburg) das oben erwähnte 2018 veröffentlichte Buch The Iconic Tattooed Man of Easter Island. An Illustrated Life (o.O.). Ihre eigene Tanzleidenschaft verarbeitete Adrienne u.a. in dem Buch Hula Pahu: Hawaiian Drum Dances: Ha’a and Hula Pahu: Sacred Movements (Vol. I, Honolulu 1993).
Die aus den exemplarisch angeführten Werken ersichtliche Bandbreite ihres Schaffens lässt erahnen, dass Adrienne Kaeppler ihr Leben voll und ganz der Wissenschaft widmete. Neugierde, Interesse und Begeisterungsfähigkeit für Neues waren jene Impulse, die ihr im wissenschaftlichen Bereich Antrieb gaben, es ist aber vor allem ihre ruhige und herzliche Art des Auftretens gewesen, die uns allen als erstes in den Sinn kommt, wenn wir an diesen besonderen Menschen denken. Dies ist auch das, was uns mit Wehmut erfüllt: ihr Ableben ist ein wissenschaftlicher, aber vor allem ein menschlicher Verlust!
Hermann Mückler
Wien, im März 2022