Stuttgart 2021: J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 251 S., Hardcover, € 20.00, ISBN 978-3-608-50475-0
Genre: Belletristik
Wer weiß schon in Österreich, dass der wichtigste slowakische Nationalheld einen Bezug zur Südsee hatte und der Begründer des astronomischen Observatoriums auf Tahiti ist? Diese und andere Aspekte der schillernden Persönlichkeit Milan Rastislav Štefániks werden vom slowakischen Autor Michal Hvorecky aufgegriffen und zu einem spannenden, fiktiven, in Teilen skurrilen, auf jeden Fall unterhaltsamen Roman verarbeitet. Der aus Bratislava stammende Autor, der Schriftsteller und Journalist Michal Hvorecky verfasste bereits mehrere Romane und Novellen und schreibt regelmäßig für diverse, auch deutschsprachige, Zeitschriften. Dabei greift er immer wieder aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen auf, um diese in literarischer, fiktiver Form zu bearbeiten. Auch der vorliegende Roman weist unmittelbare, zum Teil tagesaktuelle Bezüge zu gegenwärtigen Entwicklungen in seinem Heimatland und Europa auf.
Ausgangspunkt für Hvroecky’s Ausführungen ist der Kultstatus, den der slowakische Nationalheld Milan Rastislav Štefániks in der Slowakei genießt, die aufgrund ihrer vergleichsweisen kurzen Existenz als Nationalstaat eine überschaubare Anzahl historischer Persönlichkeiten aufweist, die sich zur Heldenverehrung eignen. Hinzu kommen die bis heute nicht restlos geklärten Umstände von Štefániks Tod, der 1919 mit seinem Flugzeug bei Bratislava, vermutlich irrtümlich, abgeschossen wurde. Štefánik war ein slowakischer Politiker, Diplomat, Astronom, Offizier, im Ersten Weltkrieg ein französischer Militärpilot, General, Gründer der Tschechoslowakischen Legionen und einer der Gründerväter der Tschechoslowakei, von denen er der einzige war, der aus der Slowakei stammte.
Die Geschichte beginnt in einer Gegenwart, in der auf der zentralpolynesischen Insel Tahiti eine slowakische Kolonie existiert, in der bereits nunmehr in der dritten Generation seit deren Gründung die Slowaken ihre Heimat haben. In der Ich-Person erzählt die Protagonistin und Autorin eines Buches mit dem Titel „Tahiti“, welches sie über die slowakische Kolonie in der Südsee und insbesondere über Štefánik verfasst hat, wie die Slowaken Tahiti zu ihrer Heimat gemacht hatten und dabei auch polynesische Praktiken wie die Anbetung des Kriegsgottes Oro und die lokaltypischen Tätowierungen übernommen haben. Diese Autorin und Historikerin entpuppt sich rasch als die Urenkelin Štefániks. Da sie sich kritisch über ihren Urgroßvater und dessen Initiative, die Slowaken ins gelobte Land nach Tahiti zu führen, äußert und obendrein auch noch die aktuellen gesellschaftspolitischen Zustände auf Tahiti kommentiert, bläst ihr der Gegenwind massiver Schmähungen ihrer slowakischen Landsleute auf Tahiti entgegen. Tatsächlich wird in dem Roman das Bild einer Gesellschaft entfaltet, die zwar aus Europa nach Polynesien zog, um dort glücklich zu werden, aber vor Ort mit denselben Problemen wie im Ursprungsland umzugehen hat. Ja, noch mehr, der Kontakt zwischen den polynesischen Tahitianern und den Slowaken entwickelt sich konfrontativ, was zur Entwicklung starker nationalistischer Gefühle führt, die sich militant und zum Teil sogar gewaltsam darstellen. Breiter Raum wird Štefániks Bemühungen während der Versailler Friedensverhandlungen nach Ende des Ersten Weltkriegs gewidmet, bei denen er um die Berücksichtigung der tschechoslowakischen und insbesondere slowakischen Interessen bei der Neuordnung Europas kämpfte. Ebenso widmete er sich den Erwartungen und Hoffnungen, mit denen die Auswanderung nach Tahiti verbunden war. Und schließlich geht es um die Nichterfüllung mancher Erwartungen, das Aufbrechen alter Konflikte und das Entstehen neuer, zusätzlicher Problemfelder. Gleichzeitig werden viele Details aus der polynesischen Lebenswirklichkeit, traditionelle Bräuche und Rituale sowie die lokale Flora und Fauna detailliert erzählt und mit der Handlung verwoben. So wird der Upoa genannte polynesische Vogel erwähnt, der immer dann singt, wenn ein Kranker im Sterben liegt, oder sich etwas zur Katastrophe wendet. Letztlich münden aber alle ausschmückenden Details dieser sehr literarisch abgefassten Darstellung in den grundsätzlichen Fragen: „Was wäre passiert, wenn die Slowaken nicht nach Tahiti gegangen wären? Wenn sie in dem Kessel zwischen Tatra und Donau geblieben wären? Wie wäre dort ihre Geschichte weitergegangen?“ (S. 38).
Hvorecky gelingt es, in seinem Roman tatsächliche historische Entwicklungen, die bei der Entstehung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit stattfanden, geschickt mit der fiktiven Handlung zu verweben. So findet z.B. jener Artikel des tschechischen Journalisten Ferdinand Peroutka Erwähnung, in dem dieser, auf Informationen von Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš aufbauend, herbe Kritik an Štefánik übt und diesen als Faschisten bezeichnet. Tatsächlich ist man beim Lesen dieses Buches angehalten, sich immer wieder über tatsächliche historische Geschehnisse zu informieren, um herauszufinden, was Geschichte und was Fiktion ist und welche Dinge Hvorecky für seinen Roman verändert und zum Teil umgedreht hat.
Sehr bald, schon am Beginn des Romans, wird klar, worum es Hvorecky bei diesem Roman geht. Er hält damit seinen Landsleuten einen Spiegel vor und transferiert etliche der aktuellen bestehenden Probleme in der heutigen Slowakei in eine fiktive ferne Siedlerkolonie, die aber ebenso von überbordendem Nationalismus und allen damit verbundenen negativen Erscheinungsformen und Konsequenzen geprägt ist. Slogans wie „Wir sind hier zuhause! Für Gott und Nation Tahiti! Tahiti ist Slowakisch!“ haben, unter Austausch des Namens „Tahiti“, auch in der heutigen Slowakei ihre Entsprechung. Und die Involvierung von Ungarn und anderen Nachbarn, nicht zuletzt den Tschechen, bettet diesen Roman in aktuelle Abgrenzungsdiskussionen und Konfliktszenarien ein. Zusammengefasst ist diese Fiktion eine Dystopie über slowakische Zustände.
Das gut lesbare Werk macht die Leserinnen und Leser nicht nur mit einem der wichtigsten Vertreter zeitgenössischer slowakischer Literatur bekannt; es ist einfach ein Vergnügen, dieses ironische, selbstkritische und fast schon launische Buch zu lesen.
Hermann Mückler